Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.07.2017, Nr. 28, S. 19
Interview mit Frau Prof. Vollmer
„Für Demente sind Doppelzimmer besser“
Kranke haben ein anderes Raumgefühl als Gesunde. Eine Architektur-Psychologin über Schlafräume, Wartesäle, Flure, Türen und Farben.
Frau Vollmer, Sie als Architektur-Psychologin sagen, kranke Menschen haben eine andere Raumwahrnehmung als gesunde? Wie genau unterscheidet die sich?
Kranke Menschen nehmen Räume plötzlich als dunkler, enger und kälter wahr als ihre gesunden Partner. Und sie fühlen sich in Räumen schneller verloren, obgleich sich an deren Größe nichts verändert hat. Besonders beeindruckt hat uns bei unseren Studien, dass diese Temperaturunterschiede nicht in allen Räumen wahrgenommen werden, sondern vor allem etwa in großen, tageslichtlosen, unübersichtlichen Räumen – beispielsweise großen Eingangshallen von Krankenhäusern. Lässt man dort Patienten und ihre gesunden Partner die Raumtemperatur schätzen,liegen die Einschätzungen der Patienten im Schnitt sechs Grad unter der tatsächlichen. Die Einschätzungen der Gesunden liegen etwa ein Grad zu hoch oder zu niedrig. Erstaunlich ist also, dass bei Kranken eine erhöhte Sensibilität für architektonische Gestaltungsfaktoren festzustellen ist, die sich körperlich ausdrückt, indem sie etwa sagen: „Mir ist kalt.“
Gelten diese Ergebnisse für alle Kranken?
Nein, unsere Forschung ist sehr krankheitsgruppenspezifisch: Nur für Parkinson-, Demenz- und Krebspatienten. Also wirklich für schwerkranke, teilweise lebensbedrohlich kranke Menschen.
Weiß man, woher diese Wahrnehmung bei den Erkrankten kommt?
Die Begründung liegt in einer psycho-physischen Kopplung von Körper und Raum. Es spielen also körperliche und psychische Aspekte eine Rolle. Der räumliche Ausdruck, den ein Architekt erreichen möchte, ist nicht gleich dem Eindruck, den der Raum auf jemanden ausübt. Vom Ausdruck zum Eindruck ist es ein weiter Weg, der mehrere Filter durchläuft. Der eine ist der rein physiologische. Also: Funktionieren meine Sinnesorgane? Welche Perspektive nehme ich ein? Ein weiterer ist die Verarbeitung der Sinnesinformation im Gehirn. Die ist beispielsweise bei Demenzpatienten beeinträchtigt. Der für unsere Beobachtungen relevanteste ist jedoch der emotional-psychologische Filter: Wie geht es mir gerade? Was sind meine Erwartungen? Wie sind meine Erfahrungen? Dieser Filter spielt bei schwerkranken Patienten eine große Rolle.
Inwiefern?
Wir vermuten, der Patient macht durch seine Erkrankung die Erfahrung, dass er verletzlich wird. Sein eigener Schutzraum ist beschädigt. Er merkt, sein Körper bietet ihm nicht den Schutz, den er für selbstverständlich gehalten hat. Je schwerer die Erkrankung ist, desto bedrohlicher wird dies erlebt. Dieses neue Bewusstsein verändert unseren ersten Ergebnissen nach den Körper- Raum-Bezug und somit die Raumwahrnehmung.
Welche Räume betrifft das?
Im Prinzip alle. Das eigene Zuhause ebenso wie Krankenzimmer in der Klinik oder Warteräume. Im Wartezimmer kann zum Beispiel dieses Gefühl der Enge sehr bedrückend für die Patienten werden. Aber ich erinnere mich auch an eine Patientin, die vor lauter Engegefühl ein Fenster in die Wohnzimmerwand hat schlagen lassen, damit sie wieder das Gefühl bekommt, Luft holen zu können. Man sieht, dass die veränderte Raumwahrnehmung Ausdruck eines seelischen Leidenszustands ist, also für „das Luftabschnüren“ oder „den verdunkelten Blick“,der eigentlich nichts mit der äußeren Realität, dem Raum, zu tun hat, sondern mit der inneren Realität, dem eigenen Körpererleben im Umgang mit einer schweren Krankheit.
Haben Sie auch die Raumwahrnehmung von kranken Kindern untersucht?
Ja, aber bei Kindern haben wir einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt gestellt, weil für kranke Kinder die Beziehung zwischen architektonischem Raum und Wohlbefinden von einer wichtigen Variable beeinflusst wird: dem Beziehungsraum zu ihren Eltern. In Utrecht wird derzeit weltweit die erste onkologische Kinderklinik gebaut, die auf den architekturpsychologischen Konzepten unserer Untersuchungen basiert.
Wie wird die Klinik aussehen?
Am deutlichsten wird man das Neue an den Krankenzimmern sehen. Darin kann das Kind je nach Alter selbst kontrollieren, welchen Abstand es zu den Eltern haben will. Wenn es ihm gutgeht, kann es sich akustisch und visuell ganz von ihnen trennen. Die Eltern haben dann ihr eigenes Zimmer. Das Kind hat mehr Ruhe. Die für die Genesung so wichtige Schlafqualität verbessert sich dramatisch. Wenn es dem Kind schlecht geht, regelt eine flexible Wand Abstand und Kontaktintensität zu den Eltern, und die für die Genesung ebenfalls wichtige soziale Unterstützung wird hergestellt. Zudem gibt es im Zimmer Zonen für medizinische Handlungen wie Blutabnehmen und Zonen für schönere Dinge wie etwa Freunde treffen; das ist zum Beispiel in einer Nische am Fenster möglich.
Warum finden die Erkenntnisse aus der „heilenden Architektur“, wie Ihr Forschungsfeld genannt wird, nicht viel mehr Einfluss in die Gestaltung von Kliniken heute?
Das Interesse ist sehr groß von Seiten der Krankenhausbetreiber. Aber im Moment haben wir noch stets das Problem, dass valide Studien fehlen, die zum einen die Komplexität von Architektur abbilden und zum anderen eindeutige Effekte auf Heilung und Genesung belegen. Die also zeigen, dass, wer etwa in einem Krankenzimmer liegt, das nach heilenden architektonischen Prinzipien gestaltet ist, schneller entlassen werden kann oder weniger Nebenwirkungen hat. Ohne solche Ergebnisse wird die „heilende Architektur“ von Krankenhausbetreibern nicht finanziert.
Es muss also ein Effekt solcher Räume direkt auf die Gesundheit festgestellt werden: Heilt die Wunde schneller? Verursacht der Patient so weniger Kosten fürs Gesundheitssystem?
In einem Hotel ist es wichtig, dass sich der Gast wohl fühlt, weil er dann als zahlender Kunde wiederkommt. Im Krankenhaus ist man, um zu genesen, und möchte danach lieber nicht wiederkommen. Folglich ist es nur legitim, darauf zu achten, dass nur das, was einen Beitrag zur Genesung liefert, auch Einzug in die Versorgung hält. Schließlich bezahlt jeder im Gesundheitssystem mit. Wichtig ist dabei aber, sogenannte „weiche Kriterien“ wie das Wohlfühlen nicht als unwichtig abzutun, sondern seriös zu studieren. Es gibt ja inzwischen genügend Hinweise darauf, dass die psychosoziale Komponente einen durchaus starken Einfluss auf Verlauf und Erleben körperlicher Erkrankungen ausübt. Genau das werden wir dann auch in der Utrechter Kinderklinik untersuchen.
Aber jeder, der schon mal im Krankenhaus lag, weiß doch, wie unwohl man sich da fühlen kann, wenn weder Privatsphäre geschaffen wird, noch die Umgebung einigermaßen zum Wohlfühlen ist.
Ja, aber wie gesagt, Erfahrung reicht nicht, um Geld für gute Studien lockerzumachen.
Haben Sie untersucht, ob man in Einzel- oder Doppelzimmern schneller gesund wird?
Ob man schneller gesund wird, haben wir nicht untersucht. Aber Wissenschaftler sind sich weltweit einig, dass aufgrund verbesserter Schlafqualität und dem Gefühl von Normalität und Kontrolle sowie gesenktem Infektionsrisiko vorrangig Einzelzimmer gebaut werden sollten. Eine Ausnahme bilden Demenzpatienten, die sich in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium befinden.
Für sie sind Doppelzimmer besser? Warum?
Weil die soziale Unterstützung bei ihnen wichtig ist, weil sie sich besser an Situationen und Räume mit Menschen erinnern als an Situationen ohne sozialen Kontext. Das ist manchmal gar nicht leicht, diesen Aspekt Angehörigen zu vermitteln, die sich für ihren demenzkranken Verwandten mehr Privatsphäre wünschen.